Was das System vergisst: Die andere Seite der Geschichte
Juni 2025
Wenn Angehörige nicht vorgesehen sind
Ich begleite meinen Sohn, seit er 13 ist, seitdem er angefangen hat, Drogen zu konsumieren.
Schon damals, obwohl er noch minderjährig war, habe ich gespürt: Das Hilfesystem tut sich schwer mit Angehörigen.
Ich war nicht nur die Mutter. Ich war diejenige, die alles auffing, die nachts wach lag, die Termine machte, die Zusammenbrüche auffing und trotzdem war ich oft außen vor.
Nicht gefragt. Nicht informiert. Manchmal sogar misstrauisch beäugt.
Mit der Volljährigkeit wurde es nicht besser, eher noch schlimmer.
Schweigepflicht, Datenschutz, Systemlogik.
Was als Schutz gedacht ist, wird zur Wand. Und wir Angehörigen stehen davor. Leise. Müde. Oft ohnmächtig.
Seitdem sind viele Jahre vergangen.
Ich habe Kliniken erlebt, Entgiftungen, BeWo, Rückfälle, Haft, Forensik. Ich habe getragen, geschwiegen, gehofft, protestiert, mich zusammengerissen, weil es niemand sonst getan hätte.
Heute weiß ich: Angehörige wie ich sind im System nicht vorgesehen. Wir sind da, ja… aber nicht als Teil der Versorgung, sondern oft als Störfaktor.
Wenn wir etwas sagen, stören wir. Wenn wir nichts sagen, sind wir gleichgültig. Egal, was wir tun, es passt selten ins System.
Erst in der Selbsthilfe, in Elternkreisen habe ich erlebt, dass ich mit diesen Erfahrungen nicht allein bin. Dort wird zugehört, dort wird verstanden, dort darf man ehrlich sein.
Und genau deshalb schreibe ich hier. Diese Seite ist meine Stimme. Und sie ist auch eine Einladung. An alle, die mittragen.
An alle, die übersehen werden. An alle, die spüren, dass da was schiefläuft, aber es nie aussprechen durften.
Denn wir sind nicht das Problem. Wir könnten ein Teil der Lösung sein…. Wenn man uns lassen würde.
Juli2025
Wenn gute Projekte Hoffnung machen – und trotzdem nicht reichen
Bei der trialogischen Fachtagung der Arwed, wurde auch das Berliner Projekt "FriDA" vorgestellt.
Ein Konzept für Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren, suchtgefährdet oder bereits abhängig und ihre Eltern.
Und ja, "FriDA" scheint wirklich gut zu funktionieren.
Da wird mit Jugendlichen gearbeitet, mit Eltern, gemeinsam oder auch erstmal getrennt – je nachdem, was gerade tragbar ist.
Man spürt: Da will jemand wirklich Familien mitnehmen. Nicht nur am Rande, sondern mittendrin.
Die Idee trägt, aber sie wird (noch) nicht überall gleich gelebt.
Was ich mich aber vor allem frage:
Warum gibt es "FriDA" nicht Standart? Warum ist so ein Ansatz nicht längst bundesweit Standard. Gerade bei einer Altersgruppe, bei der so vieles auf der Kippe steht? Und warum hört diese Logik mit 21 auf?
Denn auch mit 25, 35 oder 45 gibt es Sucht, psychische Erkrankung und Eltern, die noch immer kämpfen. Nicht, weil sie sich aufdrängen.
Sondern, weil sie nicht einfach aufhören können zu lieben und kümmern.
Ich kenne so viele Mütter und Väter, die längst nicht mehr „müssen" und trotzdem noch da sind. Weil keiner sonst geblieben ist. Weil Verantwortung sich nicht an Altersgrenzen hält.
"FriDA" macht Hoffnung.
Jetzt müsste man nur noch den Mut haben, sie auszubauen. Denn gute Ideen sind nichts wert, wenn sie in Modellregionen versauern.
Versöhnen, nicht verzweifeln ….und wieder neue Gedanken
Ich gebe es offen zu:
Manchmal denke ich, das System will gar nicht, dass wir Angehörigen mitreden. Dann bin ich frustriert, verletzt, wütend. Aber ich will mich nicht in dieser Bitterkeit einrichten. Ich will mich versöhnen, nicht verzweifeln. Denn es gibt sie ja...diese anderen Erfahrungen.
Die, die zeigen: "Es geht auch anders."
Zum Beispiel das Gespräch mit der Chefärztin der regionalen Klinik meines Wohnortes für Psychiatrie, Psychosomatik, Sucht und Doppeldiagnosen, was mich ehrlich berührt hat.
Ich hatte sie auf einem Suchtkongress angesprochen…spontan, ohne Erwartungen. Und sie? Hat sofort zugehört. Hat meine Idee eines Angehörigenkreises unterstützt und mir Räume in ihrer Klinik angeboten. Nächste Woche schaue ich mir die Räume an.
Auch die Drogenberatung der Caritas zu denen ich Kontakt aufgenommen habe, hat sich offen und unterstützend gezeigt.
Und die Selbsthilfekontaktstelle? Die steht – wie immer – verlässlich an unserer Seite. Ohne großes Aufheben. Einfach da.
Es tut gut zu spüren, dass sich etwas bewegt. Nicht alles. Noch lange nicht genug. Aber genug, um weiterzugehen.
Und wenn ich ehrlich bin: Die Erfahrungen der letzten Wochen, so aufreibend sie waren, sie waren auch ein weiterer Meilenstein.
Ein Stück Erkenntnis. Ein Stück inneres Aufrichten. Ich bin gewachsen. Leise. Und irgendwie klarer.
August 2025
Und plötzlich wird alles eng
Eine große Herz-OP bei meinem Mann, Sorgen um Patty und der Abschied von einem langjährigen Familienmitglied.
Manchmal fühlt es sich an, als hätte das Leben einen Vorrat an Krisen, den es in einer Woche auf einmal ausschüttet.
Und doch – zwischen Angst, Traurigkeit und diesem „Es ist einfach zu viel“-Gefühl – gibt es auch Momente der Klarheit.
Momente, in denen man weiß: Ich bin immer noch hier.
Mit meinem Mann bin ich ein gebranntes Kind. Zu viele Erinnerungen an Armin, den Vater meiner Kinder. Er hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Ein qualvoller Weg. Er ist in meinen Armen gestorben. Diese Bilder, diese Gefühle und sie sind tief eingespeichert.
Und auch wenn ich wusste, dass die Situation diesmal eine andere ist, kam mit Andreas’ Angina-Pectoris-Anfall sofort diese alte Angst zurück.
Und ja es wurde auch hier eine große Operation. Zwei neue Bypässe. Der ganze Brustkorb geöffnet. Das volle Programm der Herzchirurgie.
Aber jetzt, wenige Tage später, liegt er auf der Normalstation. Das Atmen fällt ihm noch schwer, die Narben sind frisch, doch er ist da.
Und er lebt. Und das ist in diesem Moment alles, was zählt.
Und dann ist da noch Patty.
Mein Gefühl sagt mir, dass er wieder rückfällig ist. Ich habe die Zeichen so oft gesehen, dass ich sie im Schlaf erkenne:
Er wird immer dünner, sein Verhalten kippt, die Wortwahl ist rauer, das Liebevolle fehlt. Geldforderungen, die ganz schnell erfüllt werden müssen.
Und immer öfter treibt er sich an diesem Umschlagsplatz herum, in der Stadt, in der ich vorher gewohnt habe.
Ich habe mit seiner Bezugsbetreuerin vom BeWo gesprochen. Sie war mit ihm schon in der forensischen Ambulanz, hatte Sorgen, aber nicht in diese Richtung. Ich schon. Weil ich weiß, wie es aussieht, wenn er so wird.
Und als wäre das nicht schon genug
mussten wir vor Woche unsere älteste Katze einschläfern. Sie wurde 17 Jahre alt.
Sie war eine von unseren vier Fellkindern. Manche sagen: „Es war doch nur ein Tier.“ Ich sage: Es war Familie. Und der Abschied hat wehgetan.
Ich will mich nicht bedauern. Das liegt mir nicht. Aber ich sage es, wie es ist: Es ist gerade verdammt viel.
Nachtrag
Andreas wird in der Helios Klinik in Siegburg behandelt und ich muss sagen: Vom Pfleger bis zum Chefarzt, vom Narkosearzt bis zur Stationsleitung... ich habe mich als Angehörige gesehen, ernst genommen und einbezogen gefühlt. Keine Berührungsängste, keine Abwehrhaltung. Man sprach mit mir, nicht über mich hinweg. Es war sogar erwünscht, dass ich bei den Gesprächen teilnehme, ich konnte jederzeit anrufen usw.
Und ja, da ziehe ich innerlich den Vergleich zur Psychiatrie. Ich weiß, vielleicht vergleiche ich Äpfel mit Birnen – somatische Medizin und Psychiatrie sind zwei verschiedene Welten. Aber in der Psychiatrie herrscht oft diese eiserne Schweigepflicht, die Angehörige wie mich schnell an Mauern prallen lässt. Mauern, die manchmal höher wirken als nötig. Warum ist das so? Liegt es an Strukturen, an Traditionen, am Misstrauen gegenüber Angehörigen?
Ich weiß es nicht. Aber ich möchte es gerne wissen.
Ich weiß nur, dass es auch in der Psychiatrie mittlerweile Fortschritte gibt, aber eben immer noch unter dem strengen Siegel der Verschwiegenheit.
Und ich frage mich: Wann wird man auch dort erkennen, dass Angehörige nicht das Problem sind, sondern oft Teil der Lösung?
Zwischen Herz-OP und Herzschmerz
Andreas hat die große Herz-OP überstanden. Zwei neue Bypässe... ein Eingriff, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Mittlerweile ist er wieder zu Hause. Er schläft viel, die Luft fällt ihm schwer, weil Wasser in der Lunge ist. Jetzt warten wir auf den Anruf der Reha. Schritt für Schritt, nicht mehr und nicht weniger.
Für mich war die Zeit während der OP und auf der Intensivstation kaum auszuhalten. Zu groß die Angst, zu viele Erinnerungen an Armin, meinen verstorbenen Mann. Ein richtiger Trigger. Ich habe gemerkt, wie stark die Verlustängste in mir wohnen. Nächte voller Albträume. Bilder, die nicht verschwinden wollen. Und die Angst, auch Patty zu verlieren, läuft immer mit. Ich will nicht noch einmal hinter einem Sarg herlaufen.
Mit Patty habe ich die letzten Wochen nur telefonischen Kontakt. Meistens geht es ums Geld. Das Deutschlandticket kaufe ich ihm nicht mehr – beim letzten Mal hat er sich damit einfach nach Süddeutschland abgesetzt, hat jede Absprache gebrochen und sämtliche Bewährungsauflagen missachtet.
Am Telefon ist er oft verbal übergriffig. Das tut weh. Deshalb besuche ich ihn im Moment nicht. Auch wenn ich mich nach ihm sehne. Es zerreißt mich, diese Entscheidung. Aber manchmal geht es nicht nur darum, für jemanden da zu sein, sondern auch darum, sich selbst nicht zu verlieren. Muttersein heißt lieben, hoffen, vermissen. Aber manchmal eben auch: Grenzen ziehen.
Es sind nicht nur die Ängste in der Gegenwart, die mich prägen. Verluste haben sich in mein Leben eingeschrieben. Vor drei Jahren starb meine geliebte Mutter einen qualvollen Tod. Drei Monate hat ihr Sterben gedauert, jede Minute war ein Abschied. Die letzte Nacht habe ich bei ihr im Pflegebett geschlafen... einfach, um zu zeigen, dass sie nicht allein ist. Dieses Gefühl, jemanden bis zum letzten Atemzug zu begleiten, brennt sich ein. Es verändert, es bleibt.
Vielleicht ist es genau das, was mich heute so dünnhäutig macht. Jeder neue Abschied, jede Sorge um meine Liebsten, weckt diese alten Wunden wieder. Und trotzdem: Ich habe getragen, ich habe gehalten, ich habe geliebt – auch da, wo es weh tat.
Und doch: Diesmal ist alles gut gegangen. Andreas lebt. Er ist da.
Und das ist gerade alles, was zählt.
Manchmal schaue ich zurück auf meine Familie. Von fünf Kindern und drei Stiefkindern leben heute nur noch drei. Ich bin eine davon. Meine Geschwister sind alle viel zu früh gestorben. Zurück bleiben mein Bruder, zu dem ich keinen Kontakt mehr habe, und meine Stiefschwester, die mir liebevoll zur Seite steht.
Auch das gehört zu meiner Geschichte: Verlust und Überleben. Es macht mich traurig, aber vielleicht erklärt es auch, warum ich so sehr an den Menschen festhalte, die mir geblieben sind.
September 2025 Wenn Tun zur Kraftquelle wird
Zwischen Angst und Hoffnung, Familie und Selbsthilfe – meine Gründung zum Elternkreis
Zuerst einmal: Patty geht es nach wie vor den Umständen entsprechend.
Die Heilung nach seinen Operationen ist komplikationslos verlaufen – darüber bin ich sehr erleichtert. Im Moment haben wir mehr oder weniger eine stabile Phase. Natürlich bleibt immer dieses „Aber“ im Hinterkopf, doch für jetzt atme ich erst einmal auf.
Nach wie vor schränke ich den persönlichen Kontakt ein. Das tut mir weh, weil ich ihn oft vermisse, aber ich habe gelernt, dass es für mich manchmal notwendig ist. Am Telefon klappt es immer wieder besser, da entstehen kurze Momente der Nähe, die mir zeigen, dass er noch da ist, irgendwo hinter all dem Chaos. Diese Gespräche sind für mich kleine Lichtblicke, auch wenn sie nicht alles auffangen können.
Als Mutter ist das ein Drahtseilakt. Ich sehne mich nach Nähe, nach diesem alten Patty, der so herzlich sein konnte. Gleichzeitig weiß ich, dass zu viel Nähe manchmal alles noch schwieriger macht, für ihn und für mich. Es ist, als müsste ich ständig zwischen zwei Rollen wechseln: der Mutter, die unendlich liebt, und der Frau, die sich schützen muss, um nicht selbst daran zu zerbrechen.
Ich schreibe das hier, weil ich weiß: Viele Angehörige kennen genau dieses Spannungsfeld. Zwischen Liebe und Ohnmacht. Zwischen Nähe und Abstand. Zwischen Hoffnung und Angst. Es gibt dafür kein Patentrezept, nur den Mut, sich selbst nicht zu verlieren, während man versucht, für den Menschen da zu sein, den man liebt.
Und auch von Andreas gibt es Neues: Er ist inzwischen in der ambulanten Reha. Fünf Wochen nach der großen Operation kann man sagen, dass er das Schlimmste überstanden hat. Jetzt heißt es: heilen, Kräfte sammeln, Schritt für Schritt zurück ins Leben finden. Für mich bedeutet das eine große Erleichterung. Die Angst der ersten Wochen, die Nächte voller Sorgen und die ständigen Erinnerungen an Armin liegen mir noch schwer in den Knochen. Aber langsam spüre ich, dass ich wieder durchatmen kann. Es fühlt sich an wie ein vorsichtiges Aufatmen – nicht frei von Sorge, aber doch ein Stück leichter als zuvor.
Parallel zu all den Sorgen und Gedanken um meine Familie habe ich begonnen, eigene Schritte zu gehen. Schritte in eine Richtung, die mir wichtig ist und die mir Halt gibt. Ich habe angefangen, meinen Elternkreis zu gründen.
Der erste Schritt war das Gespräch mit der Chefärztin einer Klinik hier in der Region, die auf Doppeldiagnosen spezialisiert ist. Sie war sofort offen für meine Idee und bot mir sogar Räume innerhalb der Klinik an. Dieser Zuspruch hat mir Mut gemacht.
Dann habe ich die Selbsthilfekontaktstelle angesprochen. Ein verlässlicher Partner, wenn es darum geht, Selbsthilfe auf die Beine zu stellen. Auch dort habe ich Unterstützung gefunden.
Und so begann ich, mein Netzwerk in der Region zu spinnen: Klinik, Selbsthilfe, Beratungsstellen, Schritt für Schritt kam mehr zusammen. Und plötzlich war da dieses Gefühl: Es kann wirklich klappen.
Ich durfte sogar die Artikel für die Presse selbst schreiben, sie wurden an die Redaktionen weitergeleitet. Außerdem habe ich unseren Regionalsender angeschrieben, der mich prompt zu einem Podcast eingeladen hat. Beim Selbsthilfetag stand ich Seite an Seite mit anderen Gruppen aus dem Umkreis, habe mein Thema sichtbar gemacht. Und schließlich habe ich mein eigenes Logo kreiert, ein Symbol dafür, dass der Kreis nicht nur eine Idee ist, sondern Form angenommen hat.
Zurzeit arbeite ich noch am Facebook-Auftritt, damit ich sichtbarer werde, und ich übe mich in Canva, um meine Beiträge irgendwann professioneller gestalten zu können. Ich muss sagen: Ich bin im Flow. Es macht mir sogar Freude, Schritt für Schritt dazuzulernen, auch wenn ich manchmal über die Technik stolpere.
Am 7. Oktober wird sich dann zeigen, ob sich all die Mühe gelohnt hat: Dann ist die Eröffnung des Eltern- und Angehörigenkreises. Wenn an diesem Tag genügend Menschen kommen, die ebenfalls betroffen sind und Austausch suchen, dann weiß ich: Alles war nicht umsonst.
So traurig das Thema auch ist, in diesem Moment bedeutet es Hoffnung. Hoffnung, dass aus Leid etwas Neues entstehen kann.
Und vielleicht ist dieser Kreis nicht nur ein Ort für andere Eltern und Angehörige, sondern auch für mich selbst eine Art Heimat. Eine Heimat, in der man nicht erklären muss, warum man müde ist, warum man weint oder warum man trotzdem lacht. Eine Heimat, in der nicht die Fassade zählt, sondern das, was man wirklich trägt.
Natürlich ist ein Angehörigenkreis immer an die eigene Region gebunden. Aber meine Homepage geht über diese Grenzen hinaus. Sie soll all denen eine Stimme geben, die ähnliche Wege gehen, egal, wo sie leben.
Denn die Gefühle sind überall dieselben: Angst, Scham, Hilflosigkeit und die leise Hoffnung, doch nicht allein zu sein.
Und genau da möchte ich die Hand reichen:
Du bist nicht allein.